Es ist das erste Mal für mich auf einer großen Fähre, die über Nacht fährt. Um 16:30 Uhr legen wir in Oslo ab. Es wird schon langsam dunkel und wir beobachten vom Deck das immer größer werdende Lichtermeer Oslos, während sich die Fähre langsam auf den Weg Richtung Kopenhagen macht. Bald sehen wir von der Reling aus nur noch etwas, wenn es beleuchtet ist. Wir haben unsere eigene Kabine, die für alle Fährreisenden Pflicht ist. Als wir ein paar Stunden später den Fjord hinter uns lassen, beginnt die Fähre langsam, hin- und herzuschaukeln.
Am nächsten Morgen gehen wir gespannt an Deck – und werden von einer grauen Suppe begrüßt. Die Wolken hängen tief, vom nicht allzu weit entfernten Land sieht man nichts. Ein bisschen enttäuscht gehen wir wieder ins Warme und Trockene und setzen uns vor ein Fenster. Sehnsüchtig beobachten wir die Leute, die zum Frühstücksbuffet gehen. „Das wär‘ jetzt was.“, denken wir uns. In diesem Moment werden wir von einem Mann, der uns auf Dänisch anspricht, aus unseren Träumereien gerissen. Zurückhaltend wiederholt er seine Frage auf Englisch, ob wir schon gegessen hätten, er hätte ein Ticket fürs Frühstücksbuffet zu viel gekauft, ob wir es nehmen wollten. Ein bisschen hilflos und als sei ihm die Frage peinlich, steht er mit dem Ticket in der Hand vor uns. Er scheint froh zu sein, als wir es dankend und grinsend annehmen und entschuldigt sich dann auch noch, dass er nur eins hat!
Nachdem Johann sich das Frühstück hat schmecken lassen (und mir ein bisschen Obst herausgeschmuggelt hat) beobachten wir das Anlegen der Fähre. Jetzt sind wir also wieder in der EU. Wir machen uns auf den Weg zu Hubert, der uns die nächsten zwei Nächte über Couchsurfing aufnimmt, dann gehen wir die Stadt ein wenig erkunden. Was sofort auffällt in Kopenhagen sind die vielen Fahrräder. Überall gibt es Fahrradwege und Fahrradständer. Kopenhagen gehört zu den besten Fahrradstädten der Welt.
Am Abend holen wir Hubert an seiner Arbeitsstelle ab und machen uns mit ihm auf den Weg nach Christiania, einem alternativen Viertel, dass auch für seine Drogenaktivität berühmt ist. Ein „Fotografieren verboten“ – Schild und der Geruch von Cannabis begrüßen uns, als wir auf der Straße zwischen den vielen kleinen Ständen unter einem Lampionhimmel in eine andere Welt eintreten. Auf jedem Tischchen stehen Tüten verschiedenster Arten der wertvollen Pflanze. Hubert hat seine Freunde, bei denen er immer kauft. So auch heute. Das Angbot, auch mal zu ziehen, lehnen wir dankend ab. Wir kennen den Geschmack inzwischen beide und ziehen den Geruch auf jeden Fall vor. Auf unsere Nachfrage, wie das mit der Polizei funktioniere, antwortet Hubert, dass rund um die Eingänge Leute postiert seien, die Alarm schlagen, sollten sich Polizisten nähern. In Windeseile würde dann alles eingepackt und bis die Polizisten da wären, kann man niemandem mehr nachweisen, was er hier tut. Allerdings überlege man auch, ob man das ganze Gelände kaufen sollte. Dann wäre das gesamte Gelände Privatbesitz und für die Polizei schwieriger einzugreifen.
Wir gehen noch ein bisschen gemeinsam durch die Stadt, setzen uns in eine Bar und hören ein bisschen Live-Musik. Wir fühlen uns wohl in Kopenhagen. Es ist eine lockere und entspannte aber auch sehenswerte Stadt. Seit langem mal wieder essen wir richtiges Gebäck. Brötchen, süße Stückchen, Croissants, Brot und dazu ein Stück Brie. Wir sind im Schlaraffenland und können kaum genug bekommen.
Nach zwei Tagen machen wir uns wieder auf den Weg. Mit den Flixbus geht es raus aus Kopenhagen, dann beginnen wir zu trampen. Ein junges Paar nimmt uns bis Gedser mit, noch ehe wir einen guten Platz zum Trampen gefunden haben. Ich halte nur während dem Laufen den Daumen raus und sie halten. Von Gedser aus ist es nur noch eine zweistündige Fährfahrt bis Deutschland. Wir versuchen trampend auf die Fähre zu kommen, was jedoch nicht gelingt. Es sind nur sehr wenige Autos, die auf die Fähre fahren. Und so entscheiden wir, als es um 16:30 Uhr schon dunkel ist, in einem kleinen Waldstück unser Zelt aufzuschlagen. Sonderlich dicht ist es nicht, man würde uns bei Dämmerung sofort von einem der Waldwege aus sehen. Aber große Gedanken machen wir uns deshalb nicht. Hier läuft niemand mehr bei Dunkelheit durch den Wald, anders als in Teilen Lateinamerikas. Tatsächlich bekommen wir am Abend aber doch noch Besuch. Wir liegen gerade im Zelt und unterhalten uns, da bellt es plötzlich ein Stück neben uns. Gespannt halten wir die Luft an. „Hoffentlich führt der Hund sein Herrchen nicht zu uns!“, denke ich, da ertönt das Bellen wieder. Ich muss grinsen und schaue Johann an. Es ist kein Hund. Dieses Geräusch haben wir schon einmal gehört. Damals saßen wir bei Nacht auf einer Wiese am Waldrand. Es ist ein Reh. Wahrscheinlich hat es uns gerochen oder gehört, jedenfalls scheinen wir, bzw. das Zelt ihm nicht geheuer zu sein. Es hört sich an, als sei es recht nah, als ich jedoch mit der Taschenlampe rausleuchte, sehe ich es nicht. Es bellt noch ein paar Mal, dann wird es still. Etwas später in der Nacht schaut es nochmals vorbei.
Am Morgen stehen wir mit der Sonne auf und versuchen noch einmal unser Glück mit dem Trampen, um eventuell schon vor der Fähre eine Mitfahrgelegenheit Richtung Berlin zu ergattern – wieder ohne Erfolg. Wir gehen also zu Fuß auf die Fähre und hoffen, bei der Ankunft am Hafen noch ein paar Autos abpassen zu können. Ich werde ein bisschen nervös, als wir in den Rostocker Hafen einlaufen. Jetzt sind wir also wieder in Deutschland. Das ging letztendlich doch ziemlich schnell. Wir werden von einem großen Kohlekraftwerk begrüßt, das seinen grauen Dreck in den Himmel bläst. Als wir das Schiff endlich verlassen können, sind alle Autos schon weg. Wir müssen also zur Autobahnauffahrt laufen und dort unser Glück versuchen. Nach etwa einer Stunde hält ein LKW mitten auf der Straße. Aus dem Fenster ruft er uns zu, dass wir uns beeilen müssen. Wir sind dabei…
Es ist sehr spannend, wieder in einem LKW mitzufahren und einen Vergleich zu den lateinamerikanischen LKWs, den Fahrern und deren Geschichten zu bekommen. Mehrere Stunden lang fahren wir Richtung Berlin, werden mit Twix gefüttert und unterhalten uns über Entführungs- und Überfallgeschichten, die wir von mexikanischen Fahrern erzählt bekommen haben, während der LKW-Fahrer uns eigens erlebte Geschichten aus Spanien und Italien erzählt. An einer Raststätte trennen sich schließlich unsere Wege.
Wenig später werden wir von einem Soldaten eingesammelt. Er muss nach Leipzig, hat aber Mitgefühl mit uns, weil der LKW-Fahrer uns eine Raststätte zu spät rausgelassen hat und hier kaum jemand hält, der nach Berlin möchte. Er fährt uns ein Stück auf die Bundesstraße, die direkt nach Berlin hineinführt. Nun haben wir nicht mehr viel Zeit, bis es dunkel wird. Wir sehen uns schon nach einem Zeltplatz um, während wir trampen und wollen gerade aufgeben, weil man uns nur noch schwer erkennen kann, da hält eine junge Frau. Sie fährt zwar nur ein paar Kilometer weiter, dort gibt es aber einen Bahnhof und da wir nicht mehr weit von Berlin weg sind (20 Km.) haben wir die Hoffnung, dass von dort eine S-Bahn nach Berlin fährt. Doch als wir am Bahnhof ankommen, gibt es nicht einmal einen Fahrkartenautomat. Wir beschließen also, in einem kleinen Waldstück zu zelten. Doch vorher müssen wir noch etwas erledigen. Ich setze mich auf mache es mir auf meinem Rucksack bequem, während Johann loszieht. Nur wenig später kommt er mit dem erhofften Abendessen zurück: Döner. Das haben wir, neben Brot und Käse, sehr vermisst. Schon bevor wir in Deutschland ankamen, haben wir uns vorgenommen, so bald wie möglich einen Döner zu essen. Auf unseren Rucksäcken an einer Ampel sitzend genießen wir das lang ersehnte Mahl. Mit gefüllten Mägen suchen wir uns anschließend ein Plätzchen für unser Zelt.
Am nächsten Morgen laufen wir die sieben Kilometer zu der nächsten S-Bahn-Haltestelle, welche mit inzwischen 20 und 25 Kilo schweren Rucksäcken doch recht anstrengend sind. Angekommen am Hauptbahnhof setzten wir uns mit unserem Gastgeber über Couchsurfing in Kontakt, der in einem Hotel arbeitet und uns in seine Wohnung lässt, um die Rucksäcke abzustellen. Danach fahren wir ins Zentrum und spazieren ein wenig herum. Wir schlendern um den Bundestag, das Kanzleramt und das Brandenburger Tor. Uns fällt auf, wie viele Menschen mit nichtdeutschen Wurzeln in Berlin leben. Es ist uns schon in Oslo und Kopenhagen aufgefallen, die Städte sind bunt, auf eine ganz andere Art als in Lateinamerika, wo die Kleidung und oftmals auch die Gebäude und Musik die Buntheit prägt. Hier sind es nicht die Kleider sondern die vielen verschiedenen Gesichter. Es ist schön zu sehen, wie vielfältig Europa und auch Deutschland ist.
Erst spät am Abend kommen wir heim, da wir noch keinen Wohnungschlüssel haben. Wilhelm, unser Gastgeber, erzählt von seiner Arbeit und dem ganzen damit verbundenen Chaos. Er hört gar nicht mehr auf zu reden und möchte von Zwischenbemerkungen und Erfahrungen unsererseits kaum etwas wissen. Mit gemischten Gefühlen gehen wir schließlich schlafen.
Wir stehen relativ spät auf und verlassen die Wohnung gen Zentrum, wo wir ein DDR-Museum und die Gedenkstätte „Berliner Mauer“ besuchen. Gegen Nachmittag machen wir uns auf den Weg nach Kreuzberg, wo eine Freundin von mir wohnt, die wir besuchen. Wir haben einen sehr schönen Abend mit der Familie und ein wunderbares Abendessen.
Am nächsten Morgen besuchen wir eine Plenarsitzung im Bundestag. Wir haben uns schon ein paar Wochen vorher angemeldet und sind ein bisschen aufgeregt, freuen uns aber riesig. Nach der Sichereitskontrolle dürfen wir das hohe Haus betreten und noch einen Moment warten, bis wir auf die Besuchertribüne dürfen. Wir haben richtig Glück, es ist Haushaltswoche und deshalb sind sehr viele der hochrangigen Politiker anwesend. Gerade hat Angela Merkel ihre Rede beendet, da dürfen wir rein und Christian Lindner (FDP) zuhören, der, mal abgesehen von der etwas anderen politischen Meinung unsererseits, ein sehr guter Redner ist. Danach bekommen wir noch die Reden von Rolf Mützenich (SPD), Dietmar Bartsch (LINKE) und Anton Hofreiter (GRÜNE) mit, bevor auch wir den Saal wieder verlassen müssen. Es ist beeindruckend, bei einer solchen Sitzung dabei sein zu können und all die Politiker, die man sonst nur aus dem Fernsehen kennt, einmal live zu sehen. Uns wird klar: Als Regierung, insbesondere aber als BundeskanzlerIn muss man ein dickes Fell haben. Niemand ist zufrieden mit dem, was beschlossen wurde, es kommt Kritik und Missachtung von allen Seiten. Es ist spannend zu sehen wie Politik ganz real funktioniert, ein Gefühl der Bewunderung kommt in einem auf, für die Menschen, die tagtäglich für ihre eigene und die Meinung ihrer Wähler streiten, die Politik machen in diesem Land. Aber da sind natürlich auch die eigenen Interessen, auch wir hätten einiges an dem Haushalt auszusetzten, auch wenn wir von den verschiedenen Reden nur eine kleine Idee von dem bekommen, was da erarbeitet wurde. Dazu kommt, dass einem deutlich wird, wie träge und zäh die Politik ist, in Anbetracht der Tatsache, wie lange es braucht, bis ein Gesetz verabschiedet wird.
Nach unserem Besuch im Bundestag spazieren wir zum naheliegenden Holocaust-Denkmal, welches uns beide sehr beeindruckt. Vor allem wegen dem sehr interessanten und sehr gut aufgebauten Museum, das darunter liegt. Der Holocaust wird nicht nur anhand einer Timeline erklärt, sondern auch an ganz greifbaren Beispielen verdeutlicht. Tagebuchaufschriebe und Briefe jüdischer Verfolgter, die sich darin von ihren Familien verabschieden, Geschichten mehrerer Familien, Fotos und Tonaufzeichnungen von KZ-Überlebenden treiben dem ein oder anderen die Tränen in die Augen. Es ist jedes Mal aufs Neue schrecklich und erschütternd, sich die Grausamkeiten des Nationalsozialismus vor Augen zu führen und doch so wichtig. Man muss sich dessen bewusst werden, was da passiert ist und sich sensibilisieren, damit sich so etwas nie wieder wiederholen kann. Ganz schön geschafft verlassen wir das Museum und das Denkmal. Für heute haben wir genug Information bekommen und müssen erstmal alles sacken lassen. Wir machen uns auf den Weg in ein Büchergeschäft, in dem wir eine Weile herumstöbern und ich ich schließlich für ein Buch, in dem es um den Nationalsozialismus geht, entscheide.
Wilhelm schläft wenig und arbeitet sehr viel. Am Abend sehen wir ihn nicht mehr, weil er so spät nach Hause kommt und das, obwohl wir in einem Zimmer schlafen. Als wir am nächsten Morgen aufstehen, ist er bereits am Arbeiten. Wir besichtigen nochmal die Gedenkstätte an der Berliner Mauer. Hier stoßen wir auf die Gruppe von Trickbetrügerinnen, vor denen die Polizei warnt und die uns schon zwei Tage zuvor an der gleichen Stelle angesprochen haben. Mit Zetteln und der Frage nach Unterschriften für angeblich soziale Projekte, versuchen sie einem dabei Wertgegenstände aus den Taschen zu entwenden. Johann kann es nicht lassen und muss ihnen seine Meinung dazu kundtun. Auf sein „Geht arbeiten und hört auf, den Leuten das Geld aus der Tasche zu ziehen!“ antwortet eines der minderjährigen Mädchen nur „Halt die Fresse!“ und verzieht sich.
Mit der Berliner Mauer verbinden wir den Besuch des Tränenpalasts, Ort der Ausreise für DDR-Bürger, denen die Ausreise genehmigt worden war. Meist war dies insbesondere ein Ort der Trennung auf unbekannte Zeit von Familie und Freunden, denn viele der wenigen Menschen, die diese Möglichkeit bekamen, nutzten ihre Ausreiseerlaubnis für eine Flucht in die Bundesrepublik. Wegen der vielen Tränen des Abschieds bekam das Gebäude schon damals den Namen Tränenpalast. Wie schon vorher an der Mauer kann man kaum nachvollziehen, wie das damals gewesen sein muss und während man vom ehemaligen Ost- ins ehemalige Westberlin hin- und herläuft, wechseln sich das beklemmende Mitgefühl für die Menschen damals mit dem Gefühl und der Dankbarkeit für die Freiheit heute ab. In einer kleinen Ausstellung im Forum Willy Brandt, sehen wir uns die Geschichte ab Ende des Zweiten Weltkriegs bis zum Mauerfall in Miniaturform an. In fünf Vitrinen spielt sich die Wandlung an einer fiktiven Straßenkreuzung in Berlin ab, dargestellt mit Miniaturfiguren, -Gebäuden und -Fahrzeugen, überall mit kleinen Details.
Nach einem weiteren gelungenen Tag kehren wir relativ früh zur Wohnung zurück. Wir wollen für Wilhelm kochen und mit ihm gemeinsam zu Abend essen. Die kleine französische Buldogge Kivi ist auch mit von der Partie. Auf sie passt er ab und zu auf. Wir verstehen uns zunehmend besser mit Wilhelm und haben sehr gute Gespräche. Er hatte die letzten Tage sehr viel zu tun und erschien uns vielleicht deswegen etwas unangenehm. Außerdem scheint er sich im Umgang mit anderen Menschen manchmal etwas schwer zu tun und tritt deshalb immer wieder in das ein oder andere Fettnäpfchen, so hört es sich zumindest in seinen Erzählungen an. Aber wir bekommen auch immer mehr den Eindruck, dass er eigentlich ein herzensguter Mensch ist, der leider immer wieder ausgiebig von anderen ausgenutzt wird.
Es ist Freitag. Black Friday. Und alle versprechen, unglaubliche Rabatte anzubieten. Wir möchten uns das mal anschauen und vielleicht können ja auch wir einen guten Laptop finden. Im Laufe der Zeit haben wir uns überlegt, ein Buch über unsere Reise zu schreiben. Ob es spannend genug für andere ist, wird sich zeigen aber wir wollen auch für uns etwas in Form eines Buches von der Reise haben. Also stehen wir rechtzeitig zur Öffnung vom Saturn vor den Türen. Mit uns gut 500 andere. Um 10:00 Uhr gehen die Türen auf. Wir können es kaum glauben. Wie wenn es um Leben und Tod ginge, stürmen alle in diesen Laden. Alle vier Rolltreppen sind in eine Richtung, nach oben, geschaltet. In allen erwacht der Kapitalist. Jeder sichert sich das Gerät, auf das er schon so lange gewartet hat. Viele davon sind gar nicht heruntergesetzt. Egal. Es ist Black Friday. Wir drücken uns an den Laptops entlang, doch wirklich heruntergesetzt sind nur wenige. Oftmals klebt ein Rabattschild auf dem normalen Preisschild und wenn man darunterschaut, steht da der gleiche Preis, wie auf dem Rabattzettel. Es wird uns bald zu viel und wir verlassen den Laden. Hier wird einem ziemlich schnell bewusst, welches System nach dem Fall der Mauer gesiegt hat. Wir gehen dann doch lieber zu Fridays for Future und gesellen uns zu den 60.000 Demonstrierenden.
Am Nachmittag kommen wir zurück und packen unsere Sachen, denn es wird weitergehen. Wir kochen am Abend erneut und verstehen uns prächtig mit Wilhelm, der irgendwie zu einer Art Freund geworden ist. Die Nacht über ist er jedoch nicht zuhause, denn er ist mit seiner Ex-Freundin im Club. Wir als Partymuffel schlafen dann doch lieber, um am nächsten Morgen fit für die Weiterreise zu sein. Außerdem haben wir die Aufgabe, auf Kivi aufzupassen, der aufgrund seiner platten Mopsnase unglaublich laut schnarchend neben mir im Bett schläft.
Von Wilhelm können wir uns nicht mehr verabschieden, er kam erst früh am Morgen wieder zurück, wir verlassen die Wohnung also so leise wie möglich und machen uns mit der S-Bahn auf den Weg nach Wannsee, von wo aus wir lostrampen möchten. Wir hatten eine richtig gute Zeit in Berlin. Die deutsche Geschichte ist dort besonders greifbar, viele Museen sind kostenlos und geben tiefe Einblicke in die Geschichte. Tatsächlich gehört Berlin mit beispielsweise Mexiko-Stadt oder La Paz zu den wenigen Städten, die wir lieben gelernt haben und in die wir jederzeit wieder gehen würden.
Wir stehen mit unserem überdimensionalen „Köln“-Schild an der zweispurigen Autobahnauffahrt. Die linke wird nicht befahren, also könnte man da halten. Aber wir müssen bald feststellen, das es sehr selten vorkommt, dass da jemand anhält. Die Leute halten es für zu gefährlich oder verstehen gar nicht, wo sie überhaupt halten sollen. Nach etwa vier Stunden wechseln wir unseren Platz, der jedoch auch nicht besser zu sein scheint. In Lateinamerika wären es perfekte Orte gewesen, hier sind sie sehr schlecht. Als es langsam zu dämmern beginnt, geben wir auf. Wir gehen in ein kleines Waldstück neben der Autobahn und bauen unser Zelt auf. Ich muss mich an unsere gemeinsame Wanderung nach dem Abi im Schwarzwald und an die Woche trampen durch Frankreich erinnern. Was hatten wir damals für Angst, entdeckt zu werden. Ein Ort wie dieser hier wäre damals undenkbar als Zeltplatz gewesen. Von der Autobahauffahrt würde man uns von einem Bus oder LKW aus sofort entdecken und auch aus den Fenstern der Häuser auf der anderen Seite könnte man uns bei genauerem Hinsehen erkennen. Aber es ist schnell und lange dunkel und selbst wenn wir gesehen werden, kann man ja mit den Leuten reden.
Am nächsten Morgen versuchen wir es ein paar hundert Meter an der Stelle von gestern Abend. Doch heute, Sonntag, 1. Dezember und erster Advent, ist nicht gerade viel los und die graue und feuchte Kälte lässt uns bald frieren. Wir sind frustriert und unsere Motivation sinkt minütlich. Die Kälte, die riesigen Autobahnen, die für hiesige Verhältnisse schlechten Stellen zum Trampen stimmen uns nicht gerade freudig. Ein älterer Herr am Stock wünscht uns einen schönen ersten Advent und meint noch: „Die Leute halten nicht mehr so wie früher, aber nicht aufgeben!“ Leichter gesagt als getan. Blablabus fährt für 10€ von Berlin nach Köln. Verlockend. Aber wir können wirklich noch nicht aufgeben. Bis heute Nachmittag versuchen wir es noch, beschließen wir. Wenn wir bis dahin nichts haben, nehmen wir morgen den Bus. Wir fahren mit unserem Wochenticket mit der S-Bahn an die Messe, an der es eine Autobahn-Rastätte gibt. Da ist allerdings tote Hose. Wir stellen uns an einen Zubringer auf die Autobahn auf die wir wollen. Es ist wieder ein durchgezogener Seitenstreifen aber etwas Besseres können wir bei bestem Willen nicht finden. Wir bräuchten eine große Parkbucht, da würden die Leute halten aber hier können wir nur hoffen, dass wir Glück haben und irgendjemand sich traut anzuhalten. Wir haben unglaubliches Glück. Fünfzehn Minuten nachdem wir unsere Posten bezogen haben, hält ein Mann und nimmt uns mit zu einer Autobahnraststätte. Er selbst ist in seiner Jugend viel getrampt und kann deshalb nicht an uns vorbeifahren. Mit dem Trampen an Raststätten haben wir noch nicht viel Erfahrung und wir sind etwas skeptisch, wie gut es wohl funktioniert. Doch tatsächlich ist, sobald wir auf der Autobahn sind, wie ein Schalter umgelegt. Es läuft wie geschmiert. Tatsächlich hat man das Gefühl, dass die Leute eigentlich halten wollen, sich aber bezüglich des Ortes, an dem sie halten können, extrem unsicher sind. Nur wenig später sintzen wir bei einer sympathischen jungen Frau im Auto, die begeistert unseren Erzählungen zuhört. Es ist schade, sich schon nach 100 Km. wieder von ihr verabschieden zu müssen. Nur ein paar Minuten später brausen wir mit zwei Frauen mit 160-180 Km/h bis Düsseldorf und sind plötzlich nur noch 40 Km. von Köln und von unserem Wiedersehen mit unserem Schulfreund Julius entfernt. Da wir mitten in der Stadt landen, sehen wir vom Zelten ab und gehen in ein günstiges Hotelzimmer, das sogar groß genug ist, unser Zelt zu trocknen.
Auf dem Weg zum Bahnhof werden wir von einem Mann angesprochen, ob wir kein Zuhause hätten. Verwundert antworten wir: „Nein, also doch, eigentlich schon, wir sind gerade auf Reisen.“ „Sehen wir wirklich so schlimm aus?“, fragen wir uns. Wahrscheinlich wird es wirklich langsam Zeit, nach Hause zu kommen. Gestern hatte uns schon ein junger Mann eine Tüte Brötchen am Bahnhof geschenkt. Heute kommt er wieder, während wir auf den Zug warten und bietet uns eine Cola an. Dieses Mal lehnen wir dankend ab. Jemand anderes wird es dringender brauchen. Wir nehmen einen Flixtrain nach Köln, da die S-Bahn viermal so viel kostet (12€ für 20 Minuten Fahrt). Mal wieder fragen wir uns kopfschüttelnd, wie man nur von Leuten verlangen kann, auf den öffentlichen Nahverkehr umzusteigen, wenn die Preise so aussehen.
Nur wenig später treffen wir Julius, lassen uns von ihm Köln zeigen, wobei wir eigentlich gar nicht viel von der Stadt sehen, weil wir viel mehr mit Reden beschäftigt sind. Wir gehen gemeinsam essen und spielen Karten bis weit nach Mitternacht.
Ganz liebe Grüße aus Köln und danke an euch wenigen, die immer noch unseren Blog lesen und sich interessieren. Der nächste Text wird erst veröffentlicht werden, wenn wir wieder zurück sind.
Wir freuen uns, euch alle bald wiederzusehen!
Johann und Rebecca
(Johann&Rebecca)